Das magische 9 Euro Ticket

oder:

Was wir heute Abend machen würden, wenn der Moment, als wir vor 15 Jahren beschlossen haben, die Lesebühne Schkeuditzer Kreuz zu gründen, so nicht stattgefunden hätte…

Fuck! denke ich und erwache. Es ist der Morgen des 15. Lesebühnen-Geburtstags, und ich habe zum ersten Mal in all den Jahren wirklich noch keine einzige Text-Idee für den Abend in der Pipeline.

„Fuck“, murmele ich, und ich erinnere mich noch genau daran, wie Marsha, Franzi, Hauke, Julius und ich nach der März-Lesebühne noch eine Weile zusammen im Backstage hier in der Halle D abhingen, und wie wir versuchten, die fünf Themen, die Ihr als Publikum uns als Schreibaufgabe für die Jubiläums-Lesebühne mit auf den Weg gegeben hattet, gerecht unter uns aufzuteilen. Und ich weiß noch genau, wie alle außer mir, sich schnell ein oder zwei Themen griffen – und am Ende trotzdem zwei Themen übrigblieben, für die sich niemand von den anderen wirklich interessierte: „9 Euro Ticket“ und „Was wir heute Abend machen würden, wenn der Moment, als wir beschlossen haben, die Lesebühne zu gründen, so nicht stattgefunden hätte…“

– „Kurt, das mit dem Was wir heute Abend machen würden, wenn… usw. solltest in jedem Fall Du machen“, meinte Franzi „so als Schamane kennst Du Dich doch mit alternativen Wirklichkeitsversionen am besten aus.“

– „Ja, und damit deine Geschichte dann nicht völlig freidreht, sondern wenigstens ‘n bisschen Erdung kriegt, nimmst Du das Thema 9-Euro-Ticket einfach gleich noch mit dazu, Kurt“, sagte Hauke.

Und alle in der Runde nickten. Und ich nickte irgendwann auch und dachte: Irgendwie wird mir schon was einfallen dazu bis zum 19. April.

Aber: Fuck, denke ich jetzt an eben diesem 19. April morgens beim Aufwachen: Mir fällt aber nichts ein! Ich habe seit Tagen null Inspiration! – Und das obwohl ich seit einer Woche eine psychedelische Salbei-Räucherkerze nach der anderen neben meinem Schreibtisch anzünde und nur noch mit Schamanengeweih durch die Wohnung laufe, um Connections zu anderen möglichen Welten und Wirklichkeitsversionen zu kriegen, aber meine Schamane-Antennen funktionieren irgendwie gerade nicht.

Fuck! denke ich also, irgendwas ist innerlich blockiert bei mir. Da hilft nur noch ein Notfalltermin bei meiner Therapeutin Natascha-Lou-Salomé, um die Geschichte doch noch irgendwie ins Laufen zu kriegen, die ich bis heute Abend schreiben muss. Natascha-Lou ist Spezialistin für interkulturelle Psychoanalyse und Mögliche-Welten-Semantik, und ich jogge gleich mal rüber in die Westvorstadt und klingele Sturm an ihrer Praxistür. Und sie öffnet etwas verschlafen und sagt, dass es jetzt ungünstig sei und ich könne mir schon denken warum.

„Ja, aber es ist dringend“, antworte ich und erkläre ihr zwischen Tür und Angel den Notfall. Und Natascha-Lou seufzt und nickt, und dann verschwindet sie kurz in ihrem psychoaktiven Materiallager und kommt mit einem leicht angegilbten handgroßen Zettel zurück.

„Was is’n das?“ frage ich.

„Das ist ein altes schamanistische 9-Euro-Ticket von den alten Maya-Medizinmännern und -frauen in Mexiko – ein magisches Ticket, mit dem diese schon vor tausend Jahren beliebig oft zwischen verschiedenen möglichen Welten und alternativen Wirklichkeiten hin- und hergereist sind. Mein Lehrer Carlos Castaneda hat es mir vermacht. Ich leihe es Dir mal, Kurt. Probier‘s einfach aus!“

Und Natascha-Lou drückt mir den Zettel in die Hand, und ich starre ungläubig auf das Stück Papier, das mit ein paar undefinierbaren blauen Kritzel-Zeichen überzogen ist.

„Aber wie soll ich‘s denn ausprobieren? Was muss ich damit machen?“

„Na, das wirst du schon selbst rausfinden“, sagt Natascha-Lou, zwinkert kurz mit den Augen und schließt die Tür vor meiner Nase.  

Ich laufe also mit dem unverstandenen 9-Euro-Ticket die Straße runter und beäuge immer wieder skeptisch die Kritzel-Zeichen auf dem Zettel. Die sehen aus als wären sie mit Kuli draufgemalt. Hatten die alten Maya damals schon Kugelschreiber? – frage ich mich.– Und im Übrigen: Euros? – Hatten die Mayas eigentlich überhaupt schon Euros damals für ihr magisches 9-Euro-Ticket? – Und plötzlich bin ich mir sicher, dass Natascha-Lou die verdammten Kritzel selber auf diesen Zettel gemalt hat und dass das alles nur ein Placebo oder ein Joke von ihr ist, oder Schlimmeres. Und ich rufe: „Fuck!“ und zerknülle den bescheuerten Zettel und schmeiße ihn in die nächste Mülltonne. 

  • „Krabumm!“ – Eine Explosion – in der Welt da draußen oder in meinem Kopf! –

Keine Ahnung wo und wie, aberich finde mich plötzlich auf dem Beifahrersitz eines CarSharing-Autos wieder, das über die Autobahn Richtung Süden driftet. Neben mir am Lenkrad: Natascha-Lou. Schräg vor mir auf dem Armaturenbrett: die Datumsanzeige: 19. April 2023, 18:37 Uhr. Träume ich? Ich kneife mir in den linken Unterarm. – Der Schmerz ist echt. – Alles ist echt! – Auch meine linke Hand ist echt, denke ich und starre verwundert auf meinen Ringfinger. Den ziert jetzt ein fetter bunter Hippie-Ring. – Wie weird ist das denn? – Ich blicke vorsichtig zu Natascha-Lou rüber – das heißt vor allem auf ihre linke Hand am Lenkrad. – Und mein Gott, ja: sie trägt da den gleichen bunten Hippie-Ring. Das muss wirklich eine total andere Wirklichkeit sein!

„Na, freust Du Dich schon auf Euren großen Jubiläums-Auftritt heute Abend in Hermsdorf, Kurt?“ Natascha-Lou schaut kurz lächelnd zu mir rüber.

Oh Gott, nichts anmerken lassen, denke ich – und starre aus dem Fenster. Hermsdorfer Kreuz 5 km verkündet ein großes blaues Schild am Straßenrand. „Ja klar, freu mich“, murmele ich. Und weil mir nichts anderes für die weitere Konversation einfällt, frage ich einfach mal zurück: „Und freust du dich auch?“

Natascha-Lou lächelt: „Natürlich freue ich mich auch, Kurt, das ist doch Euer erstes großes Jubiläum mit der Lesebühne, und Euer erster Auftritt in der neuen Mehrzweckhalle in Hermsdorf, die sie extra für Euch in dieser alten Industriebrache am Stadtrand errichtet haben, nachdem Ihr letztes Jahr als erstes Lesebühnen-Team der Welt den Literaturnobelpreis abgeräumt habt. – Oh, guck mal – wie nice!“ Vor uns ordnet sich ein alter VW-Bus ein, auf dessen Heckscheibe mit Glitzerspray geschrieben steht: „Lesebühne Hermsdorfer Kreuz – Wir lieben Euch!“

Der Bus vor uns bremst plötzlich ab, alle Autos um uns rum bremsen plötzlich ab und Natascha-Lou ebenso und blickt aufs Navi: „Kleiner Stau am Hermsdorfer Kreuz bis Abfahrt Hermsdorf –  Klar, hätten wir uns ja denken können, dass heute noch‘n paar mehr Leute nach Hermsdorf fahren wollen als sonst bei Euren Live-Auftritten dort. Das mit der Staugefahr jeden dritten Mittwoch im Monat hört sicher erst dann auf, wenn Hermsdorf endlich ICE-Anschluss kriegt wegen Euch“ – und irgendwas in Natascha Lous Stimme sagt mir, dass sie diesen Satz nicht ironisch meint.   

Wie immer, wenn ich von den Eindrücken der jeweiligen Realität überfordert bin und nicht weiß, was ich sagen soll, gebe ich mich philosophisch: „Wir leben ja alle irgendwie immer in unseren je eigenen Wirklichkeiten, Natascha-Lou. – Hab‘ ich Dich eigentlich schon jemals gefragt, wie Du das alles erlebt hast, das mit der Gründung der Lesebühne damals und wie sie sich bis heute entwickelt hat – so als Außenstehende meine ich? – Stell Dir vor, Du würdest jemandem begegnen, der die Geschichte der Lesebühne nicht kennt. Wie würdest Du sie ihm erzählen?“  

Natascha-Lou schaut mich ein bisschen irritiert an. „Komischer Wunsch, Kurt, aber was soll’s, wir stehen ja eh gerade im Stau!“ Und dann fängt Natascha-Lou an zu erzählen, wie Julius, Hauke, Franzi, Andre und ich uns zufällig vor etwas mehr als zehn Jahren bei einem Hipster-Poetry-Slam oder Hipster-Poetry-Walk zum Thema „Alternativ leben“ im Leipziger Westen das erste Mal zu fünft begegnet waren. Und es war die Zeit, als Leipzig gerade zu Hypezig wurde und zu the better Berlin und das mit der Gentrifizierung der Stadt gerade so richtig Fahrt aufnahm, und dass wir alle fünf kein Geld hatten damals, weil wir noch studierten oder prekär beschäftigt oder schon länger arbeitslos waren. Und statt Start- oder Preisgeld hatten wir am Ende auch bei diesem Hipster-Poetry-Slam oder Hipster-Poetry-Walk nur einen kleinen gelben Wohnwagen geschenkt bekommen – also einen für uns alle fünf zusammen, obwohl wir uns damals noch gar nicht kannten. „Stichwort Alternativ leben und so“, meinten die Veranstalter damals nur und grinsten. Und wir fünf diskutierten an dem Abend dann noch ein paar Staropramen lang, wo wir ihn hinstellen sollten, diesen Wohnwagen. Irgendwer sagte: „In den Auwald hinter Lützschena zum Beispiel oder an den Ortsrand von Schkeuditz oder Kleinpösna mit Blick auf die Leipziger Tieflandsbucht!“ Aber irgendwer anderes meinte, dass das alles viel zu nah an Leipzig dran sei und dass das sicher auch bald schon alles gentrifiziert würde, und dass wir doch mit dem Wohnwagen lieber gleich dahin gehen sollten, wo sonst niemand hingeht und wo man noch ein wirklich wildes literarisches Leben im Wald führen und alternativ-kulturelle Pioniertaten vollbringen könnte. – „So wie im Wald am Hermsdorfer Kreuz zum Beispiel?!“, hat dann jemand vorgeschlagen. – „Und so haben die Dinge dann ihren Lauf genommen“, erzählt Natascha-Lou weiter: „Im April 2013 seid Ihr dann alle fünf wirklich da hingezogen und habt dort unten mitten im Saale-Holzland-Outback die Lesebühne Hermsdorfer Kreuz gegründet. Ihr habt angefangen, von Hipster Gardening und Beerensammeln im Wald zu leben und einmal im Monat seid Ihr mit Euren neuesten Lesebühnentexten und Liedern in der Raststätte Hermsdorfer Kreuz aufgetreten – für Fernfahrer*innen und sonstiges Transitpersonal der A2. – Und als sich das rumgesprochen hat sind irgendwann jeden dritten Mittwoch im Monat die Parkplätze der Raststätte überfüllt gewesen, und es kam zu kilometerlangen Staus, was Euch über kurz oder lang eine gewisse überregionale Bekanntheit verlieh, weil ab jetzt in allen relevanten Verkehrsmeldungen der Republik jeden dritten Mittwoch monatlich wiederkehrend der Satz auftauchte: Wegen Auftritt der Lesebühne Hermsdorfer Kreuz Stau am Hermsdorfer Kreuz: Stau in allen Richtungen von 19 bis 24 Uhr! Und irgendwann hat die Autobahnpolizei Euer Event dann verboten. – Aber der Bürgermeister von Hermsdorf hat Euch stattdessen kostenlos den alten runtergekommenen Festsaal der Gaststätte Zum Schwarzen Bären seiner Heimatstadt als neuen Auftrittsort angeboten, damit Ihr weiter regelmäßig ein bisschen Leben in die strukturschwache Region bringen solltet. Und seitdem seid Ihr dann immer in Hermsdorf-City aufgetreten“, fährt Natascha-Lou ihren Erinnerungsbericht fort. „Und es sind dann weiter jeden dritten Mittwoch Hunderte Poetry-Transit-Fans von der Autobahn angereist und darüber hinaus noch eine Menge Thüringer Hipster- und Waldvolk aus dem ganzen Saale-Holzland-Kreis. Und zum Open Air im Sommer kamen irgendwann sogar mehrere Tausend – mit Zelten und Schlafsäcken! – Und André hat deshalb vor ein paar Jahren  zusätzlich im Nebenerwerb noch eine mobile Roasterei gegründet – keine Wunder, Hermsdorf liegt ja am Thüringer Roast-Bratwurst-Wanderweg. – Und mit eben dieser Roasterei hat André sich dann irgendwann selbständig gemacht und ist in die weite Welt aufgebrochen und veranstaltet inzwischen im ganzen deutschsprachigen Raum diese krassen Roast-Shows. Statt seiner wurde dann irgendwann Marsha beim Trampen am Hermsdorfer Kreuz an Land gespült und hat Eure Lesebühne vervollständigt. Und weil der Fame der Lesebühne sich dank Verkehrsfunk und diverser Touristenreiseführer irgendwann bis nach Schweden rumgesprochen hatte, kam die Königliche Akademie dort irgendwann auf die Idee, sie müsste nach der Nominierung von Bob Dylan für den Literaturnobelpreis vor ein paar Jahren, noch mal ein paar ganz neue alternative Akzente setzen, mit denen niemand niemals je gerechnet hat. Und so haben sie der Lesebühne Hermsdorfer Kreuz dann letzten Herbst aus heiterem Himmel den Literaturnobelpreis zuerkannt. Und die Stadt Hermsdorf hat Euch daraufhin die ewige Ehrenbürgerschaft verliehen und ein altes verfallenes Industriegebäude am Stadtrand zur Lesebühnen-Arena Hermsdorf umbauen lassen, und das Hermsdorfer Kreuz wurde vor vier Wochen sogar UNESCO-Weltkulturerbe. – Apropos Nobelpreisverleihung – weißt du noch Kurt, wie Du mich letzten Dezember eingeladen hast, mit nach Stockholm zu fahren und wie Du mir dann nach der Preisverleihung beim Festdinner mit dem Schwedischen Königspaar zwischen Vor- und Hauptspeise die beiden Ringe gezeigt und mich gefragt hast, ob wir nach zehn Jahren Fernbeziehung nicht einfach mal heiraten wollten – einfach so, ganz frei und ohne weitere Erwartungen? Ich könnte weiter in Hypezig wohnen bleiben und du weiter in Hypesdorf und am Hypesdorfer Kreuz. Und wie ich Dich anlächelte danach und ja sagte?“ 

Und während Natascha-Lou diese alternative Erinnerung meines Lebens mit mir teilt, löst der Stau sich vor uns auf, denn wir haben jetzt im Stop-and-Go-Modus die Abfahrt Hermsdorf-City erreicht. Und auch wir fahren ab und finden einen Parkplatz am Straßenrand und laufen dann mit hunderten anderen Menschen zu Fuß weiter in Richtung Lesebühnen-Arena.

„Wir müssen uns ein bisschen beeilen, Kurt – es ist gleich um acht! Ich schicke Julius eine Nachricht, dass sie schon mal mit der Hymne anfangen können und dass Du dann gleich dazustößt.“

Inzwischen taucht vor uns eine riesige festlich beleuchtete Industriehalle auf, und Natascha-Lou schleust uns an den hineindrängenden Menschenmassen vorbei zum Hintereingang und dann in den Backstage. Auf einem kleinen Monitor können wir sehen, wie Julius, Marsha, Franzi und Hauke in diesem Moment draußen auf der Bühne schon ans Mikrofon treten und die 1. Strophe unserer Lesebühnenhymne anstimmen:

„Rausgeschmissen, angestrandet

im Autobahn- und Flugverkehr

steh’n wir hier im Rausch der Nächte –

und der Wind ist unser Frisör.

Auf dem Rollfeld unsrer Träume

tanzen wir irre hin und her –

und wir werden langsam durstig

und der Wind ist unser Frisör!   

Hermsdorfer Kreuz

Hermsdorfer Kreuz

Hermsdorfer…“

„Nun aber los, Kurt!“ – Natascha-Lou hat mir inzwischen mein Schamanen-Geweih aufgesetzt, gibt mir einen Kuss aufs Stirn-Chakra und schiebt mich durch den Seiteneingang raus auf die Bühne. Ein greller Scheinwerfer erfasst mich, Julius spielt ein kurzes Zwischen-Meadley auf der Mandoline, Franzi winkt mich zu einem freien Mikrofon und drückt mir einen kleinen vergilbten Zettel in die Hand, auf dem in sehr kleiner Schrift der Liedtext unserer Hermsdorfer-Kreuz-Hymne steht, und außerdem stehen da noch so ein paar undefinierbare blaue Kritzel-Zeichen, die ich nicht ganz deuten kann, die mich aber an irgendwas erinnern, aber da setzt auch schon die zweite Strophe ein und ich röhre zusammen mit den anderen ins Mikrofon:  

„Bei Kaffee, Sternburg oder Cola

Goldi, Krosti, Kirschlikör –

schau’n wir ins Glas und können fliegen

und der Wind ist dabei unser Frisör!“

Und während wir singen, blicken wir in tausende leuchtende Handy-Feuerzeuge, die vom Publikum vor uns episch hin- und hergeschwenkt werden – und als der Refrain der letzten Strophe erreicht ist, stimmen alle im Saal frenetisch mit ein:

„Hermsdorfer Kreuz,

Hermsdorfer Kreuz,

Hermsdorfer…“

Voller Euphorie schmeiße ich bei der letzten Refrain-Zeile den Zettel mit dem Songtext und den blauen Kritzel-Zeichen hinter mich in die Luft.

„Krabumm!“ – Eine Explosion – in der Welt da draußen oder in meinem Kopf! –

Keine Ahnung wo und wie, aber ich finde mich plötzlichauf der Bühne des Werk 2 in Leipzig wieder. Es ist der Abend des 19. April 2023, und ich habe mein Schamanengeweih auf und bin gerade dabei, einen Text zur Geburtstags-Lesebühne vorzulesen, und ich raffe das alles nicht, ob das jetzt hier die Wirklichkeit ist oder nicht, und ich schüttele mich und kneife mich in den Unterarm. Und das Publikum in dieser Wirklichkeit hier schüttelt sich auch und kneift sich auch in den Unterarm…

Das alles geht echt nur mit dem magischen 9-Euro-Ticket von den alten Mayas!

KURT MONDAUGEN

Risiken und Nebenwirkungen oder: „Wir nennen es Ompfen“

Ich weiß ja nicht, wie es Euch geht. - Aber man verliert Menschen an Corona. Und man verliert manchmal auch Menschen an verschiedene Theorien über Corona.
Man verliert Menschen an verschiedene Theorien über Corona, die nicht mit den eigenen Überzeugungen übereinstimmen.
Man verliert Menschen an verschiedene krasse Theorien über Corona, die nicht mit den eigenen krassen Überzeugungen übereinstimmen. 
Man verliert Menschen zum Beispiel auch an die Impffrage und an die Risiken und Nebenwirkungen, die dahinterstecken oder dahintergesteckt werden.
Genau davon – und wie man das alles heilen kann – handelt die folgende schamanistische Transformationsgeschichte.


Fuck!, denke ich, diese verdammten Kopfschmerzen! – Was tue ich meinem Immunsystem nur an?! – Es ist 12 Uhr mittags und ich liege zermatscht auf der Couch. Gestern hatte ich meine Zweitimpfung und heute kann ich schon nicht mehr klar denken, Nena hat vielleicht doch recht, halluziniere ich. Da klingelt mein Schamanen-Telefon. Es ist Jens Spahn. – Wie jeden Tag seit Beginn der Corona-Krise rufen mich irgendwelche krassen Leute an, die für viel Geld meinen Schamanen-Rat einholen wollen. Inzwischen habe ich bald so viel Berater-Kohle zusammen, um mir wie Jens Spahn eine Villa am Wannsee oder in Gohlis oder an der Upper Eastside kaufen zu können und den Mietpreissteigerungs-Orgien der reichen Immobilienbarone in Leipzig, Berlin und New York ein Schnippchen zu schlagen, denke ich, während Jens Spahn schon auf mich einredet, dass er meine verdammte Expertise und Brainability bräuchte, und zwar dazu, wie sich die Impfquoten in Deutschland schnell nach oben pushen ließen. Es sei gerade Wahlkampf und er müsse kurzfristig noch ein paar Impf-Erfolge einfahren, um mit seiner Partei nicht aus dem Bundestag zu fliegen…
Und ich erwidere, das mit meiner Brainability sei eine Frage des Geldes natürlich. Aber Jens Spahn sagt: „Geld spielt keine Rolle!“ Und zur Not könnten Bill und Melinda Gates auch noch ein bisschen nachschießen, obwohl die sich gerade getrennt hätten. Und ich solle mir die nächsten Tage mal eine schamanistische Imagekampagne fürs Impfen ausdenken – oder besser: gleich drei solcher Kampagnen. Und er würde mir gleich heute noch ein paar Fuder ausgedroschenes Stroh aus seinem Ministerium vorbeibringen lassen und ich hätte dann drei Tage und Nächte Zeit aus dem Stroh Gold zu spinnen. 
„OK“, murmele ich durch meinen verdammten Kopfschmerz-Nebel hindurch, „ich werde schauen, was sich machen lässt.“

Am Tag drauf sind meine Kopfschmerzen immer noch da, als das Telefon klingelt. Es ist 12 Uhr mittags.
Spahn ist dran: „Na haben Sie schon was für mich?
„Ja klar“ sage ich: „Impf-Image-Kampagnen-Idee Nummer 1 – DOPPELPUNKT: Am besten erreicht man Impfskeptiker mit Musik, also zum Beispiel mit einem echt guten Popsong. Ich habe da heute Nacht was komponiert und singe es Ihnen jetzt mal kurz vor. Aber der Song sollte am Ende natürlich am besten von Helene Fischer, den Wildecker Herzbuben oder der Antilopengang performt werden – je nach Zielgruppe. – Und der Song heißt: 

Impfen ist wie Bunjee Jumping

Astra-Astra, Zenecastra
Moderna und Sinovac
Biontech-Pfizer ach wie krass da-
mit bashen wir Corona weg

Johnson & Johnson voll der Burner
Sputnik V und Sputnik Schock
Impfen ist wie Bunjee Jumping
das einzige, was dein Leben rockt…
		wirklich noch rockt…
		wirklich noch rockt…"

Schweigen in der Telefonleitung. Irgendwann räuspert sich Jens Spahn und fragt unsicher: „Und Sie meinen, dass es das ist?“
„Das ist es!“, sage ich. „Das ist ultimative Impfkampagnen-Idee Nr. 1!“  
Kurzes Schweigen. „Ok. Und was soll die Idee kosten?
„Eine Million“, sage ich
„Eine Million?“ 
„Yep, gutes Schamanen-Coaching ist immer teuer und ein Nr.1-Popsong auch.“
Wieder Schweigen. Dann höre ich, wie Jens Spahn auf der anderen Telefonleitung sein Ministerium anfunkt und eine Viertelstunde lang hektisch und wütend auf seine Mitarbeiter einredet. Schließlich überweist er mir zähneknirschend die erste Million in Bitcoins.
„Danke und bis morgen dann, selbe Zeit!“, rufe ich in den Hörer, aber Spahn hat schon aufgelegt.

Tag 2 meiner Auftragsarbeit. Gegen Mittag höre ich gerade im Radio Tim Bendzko seinen neuen Hit „Impfen ist wie Bunjee Jumping“ singen, aber meine Kopfschmerzen gehen auch davon nicht weg, da ruft Jens Spahn wieder an: „Also Herr Mondaugen, wie lautet Kampagnen-Idee Nummer 2“ 
„Also Kampagnen-Idee Nummer 2 zielt auf die sprachlich Hypersensiblen unter den Impfskeptikern. Für die braucht es am besten eine vokalische Umkodierung des Wortes „Impfen“: „Impfen“ – das fängt ja mit einem „I“ an, aber das „I“ das ist schon als Vokal so verdammt spitz – so verdammt spitz wie das „I“ in „Spritze“ und so verdammt spitz wie eine Impf-Spritze selbst – und das weckt bei vielen Leuten gleich von Anfang so negative Assoziationen und Gefühle gegenüber dem Wort „Impfen“! – Für alle diejenigen sollte das „Impfen“ im Rahmen der Kampagne einfach umbenannt werden. Man sollte es statt mit dem „I“ einfach mit einem runderen und entspannteren Vokal beginnen lassen, dieses Wort, mit einem meditativen „O“ zum Beispiel wie bei „Om“. Das kennen Sie vielleicht. Also ich hab‘ jetzt für genau diese Zielgruppe auch gleich mal einen zweiten erstklassigen Popsong komponiert. Und der Song heißt: 

Wir nennen es Ompfen!
 
Hast du Angst vor Spritzen
Und beim Impfen siehst du rot
Für alles gibt’s ne Lösung: 
Die heißt Ompfangebot, Ompfangebot

Da hilft nur, hilft nur, hilft nur 
ein Ompfangebot
Mach mir, mach mir, mach mir
Ein Ompfangebot, ein Ompfangebot
Es steigert meine Ompfbereitschaft 
dieses Ompfangebot
Ich fahr gleich zum Ompfzentrum 
um’s nicht zu verpassen:
und um mir eine Ompfung
verpassen zu lassen
mit dem Ompfangebot
diesem krassen, krassen, krassen 
Ompfangebot!

Wir nennen es Ompfen 
Wir nennen es Ompfen
Impfen war gestern 
heute ist Ompfen
es tut alle Erwartungen
voll übertrompfen
Wir nennen es Ompfen 
Wir nennen es Ompfen!"

Stille in der Telefonleitung. Jens Spahn fragt unsicher: “Und was soll diese Idee kosten?“
„Eine Million“, antworte ich
„Eine Million?“ 
„Yep, gutes Schamanen-Coaching ist immer teuer und ein zweiter Nr. 1 Popsong auch.“
Ich höre, wie Jens Spahn auf der anderen Leitung Bill Gates anruft, aber der ist kurz angebunden wegen seiner Scheidung vermutlich oder weil der Wert seiner Stiftungs-Aktienpakete bei McDonalds gerade wegen irgendwelcher Klima- und Tierschutzaktivisten in den Keller rauscht, und sie diskutieren eine Viertelstunde. Und dann sagt Jens Spahn „geht klar“ und überweist mir in Echtzeit die zweite Million, die Bill Gates ihm gerade geliehen hat. 
„Danke und bis morgen dann, selbe Zeit!“, rufe ich in den Hörer. 

Es ist der finale Tag 3 meiner schamanistischen Auftragsarbeit. Mittags sind meine Kopfschmerzen immer noch da, obwohl Helene Fischer gerade ihren neuen Nr.1-Hit „Wir nennen es Ompfen“ live im Radio performt, da ruft Jens Spahn pünktlich um 12 Uhr an: „Also Herr Mondaugen, wie lautet Kampagnen-Idee Nummer 3?“ 
„Positive Überdetermination!“
„Positive was?“
„Positive Überdetermination! Also ich erklär Ihnen das jetzt mal kurz: Es gibt doch dies ganzen  krassen negativen Projektionen, die viele impf- oder ompfskeptische Leute mit dem Impfen oder Ompfen verbinden. Dem kann man am besten durch radikales Umkodieren begegnen – statt Risiken und Nebenwirkungen zu kommunizieren, muss man die positiven Versprechungen und Erwartungen, die sich bei den einzelnen Menschen mit der Impfung bzw. Ompfung verbinden könnten, auf radikale Weise übertreiben. Man muss so phantasievoll und pointiert wie möglich die gigantischen Chancen kommunizieren, die das Impfen oder Ompfen zum Beispiel für die persönliche Fitness oder Selbstoptimierung oder für die Verbesserung des eigenen Mindsets oder für die Erfüllung aller Arten von abstrusen Selbstverwirklichungswünschen bietet: Das alles am besten verbunden mit Wellness-Musik: Also, Herr Spahn, ich führ‘ Ihnen das jetzt mal vor!“ – Und ich spiele eine sphärische Entspannungsmusik mit viel Meeresrauschen ein, und über den Wellness-Sound hinweg, raune ich:
		…
"Entfalte dein geistiges Potential – durch Ompfen!
…
Geld, Gold und ein sorgenfreies Leben – durch Ompfen!
…
Befreie den Tiger in Dir – durch Ompfen!
…
Auch du kannst Einstein sein – Ompfen!

Alle 11 Minuten verliebt sich ein Single beim: Ompfen!
…
Mit 2 Pieksen zum Six-Pack-Bauch – durch: Ompfen! 
…
Du willst dass die Frauen bei dir Schlange stehen: OmpfenDu willst, dass die Männer bei dir Schlange stehen: Ompfen!
…
Penisverlängerung durch: Ompfen!
…"
„… o.k. ok., ich hab‘s verstanden! Und was kostet diese dritte Idee?“ fragt Spahn ungeduldig.
„Auch nur eine Million!“ sage ich
Schweigen. „Ich hab‘ keine Million mehr“, flüstert Spahn mit erstickter Stimme.
„Nicht mein Problem“ sage ich kühl.
Jens Spahn weint. Dann beginnt er zu jammern und zu betteln: „Bitte, bitte, bitte! Ich muss diese dritte Idee unbedingt haben. Sie ist meine letzte Chance!“ 
Ich atme tief durch, Immer wenn Politiker weinen, werde ich schwach: „Na gut“ sage ich, „weil du es bist Jens, dann überschreibe deine Villa am Wannsee dafür aber an die Obdachloseninitiative Berlin“.
Und Jens Spahn jault und weint noch lauter. Schließlich scheint er sich zu fassen, checkt im Hintergrund nochmal seine aktuellen Popularitätswerte auf dem Politbarometer, schluchzt  ein letztes Mal tief und eindringlich auf, und dann überschreibt er tatsächlich seine Villa am Wannsee per Handytransaktion an die Obdachloseninitiative Berlin
„Danke“, sage ich. Und meine Kopfschmerzen sind verschwunden… 
↓
NACHTRAG:
Jetzt mal ernsthaft, Leute: Hängt es nicht zu hoch, das mit dem Impfen oder Ompfen. Es wird natürlich garantiert nicht so sein, dass durch die Impfung oder Ompfung alle eure krassesten oder geheimsten Wünsche in eurem Leben gleich miterfüllt werden. Also ich meine: Wenn Ihr Euch ompfen lasst, dann macht es nicht wegen irgendwelcher übertriebener Heilsversprechen. Macht es am besten ein bisschen der Vernunft und ein bisschen der Solidarität wegen oder macht es meinetwegen wegen des Dalai Lama, der es auch getan hat, wenn er für Euch ein Vorbild ist. 
Oder aber, wenn Ihr es gar nicht anders könnt, dann macht das mit dem Impfen oder Ompfen wegen des Schamanismus, der diese Welt bekanntlich im Innersten zusammenhält. In diesem Sinne habe ich nun zum Schluss noch ein leicht ompf-adaptiertes originaltuwinisches Schamanengedicht mitgebracht – von meine ausgedehnten ethnographischen Forschungsreisen nach Sibirien:

Rat des alten Schamanen an die westliche Zivilisation
Tut Euer Bestes!
Haltet Euer Tipi sauber
und versucht, 
gute Menschen zu sein
und hört ab und zu Musik
von John Cage 
oder von Stockhausen
und lasst euch ompfen wie der Dalai Lama
Das ist schon alles
was ich euch sagen kann!
Ach so – 
ganz wichtig noch: – 
ATMET!
↓
Nachtrag Nr. 2: 
Diese Geschichte wurde gesponsort von der Bill und Melinda Gates Stiftung im Rahmen der Förderreihe. „Kulturelle Ompfangebote für alle!“ 


Lockdown Tagebuch / Kurt Mondaugen

Tag 1

1. November. „Fahr mal runter, Alter“, sagt der Lockdown, tritt durch die Tür und fletzt sich mit einer Tüte Chips neben mich auf die Couch. „& Willkommen zur November-Blues-Schocktherapie! Gleiches heilt Gleiches: Demotivationstraining mit dem Corona-Virus!“ Der Lockdown grinst. –  Na mal sehen, denke ich, ob das hilft.

Tag 7

Der Lockdown und ich sitzen noch immer zusammen auf meiner Couch. Seit 48 Stunden schauen wir uns wieder und wieder verwackelte Amateur-Videos auf Youtube an. Darin tanzen 80.000 hygienebefreite Menschen euphorische um den Leipziger Innenstadt-Ring. Und irgendwann stelle ich mir vor, wie es wäre, später wirklich einmal frei zu sein und in einem Corona-Leugner-Aussteiger-Programmen zu leben. – „Wie damals in den 80ern die Reste der RAF in der DDR“, sagt der Lockdown, „nur harmloser.“ – So, so. Der Lockdown kann also meine Gedanken lesen.

Tag 11

Der Lockdown und ich spielen Homeoffice. Es ist Faschingsbeginn. Um 11.11 Uhr verkleidet sich mein Lockdown als Powerpoint-Folie mit den neuesten Fallzahlen des RKI. – „Sehr, sehr witzig“, sage ich. Aber die Powerpoint-Folie murmelt, sie könne nichts dafür und schüttet mir ihr bürokratisches Herz aus. Und sie weint ein bisschen. Und um sie zu trösten, schütte auch ich ihr mein bürokratisches Herz aus – mit den eigenen krassesten Absturz-Fallzahlen meines Lebens. Und ich denke, wie schön es wäre, eines Tages selber als Powerpoint-Folie weiterzuleben, die ich mit Euch teile gegen den Novemberblues – na ja oder auch nicht. Was man so denkt nach 11 Tagen Homeoffice, man wird langsam ein bisschen crazy. – „Steuerung Alt entfernen“ sagt der Lockdown. – Danke!

Tag 23

Der Lockdown tut so, als wäre er inzwischen mein persönlicher Coach, und befiehlt: November-Blues hin oder her, ich solle jetzt einfach mal rausgehen. – Auf der Sachsenbrücke treffe ich zufällig oder auch nicht zufällig meine Exfreundin oder On/Off-Freundin oder Hypnotherapeutin Natascha-Lou, je nach dem. Mal sehen, was geht, denken wir beide ganz impulsiv gegen die Lockdown-Einsamkeit, und kauern uns nebeneinander auf die Brücke. Und wir beide erinnern uns sofort zurück an den ersten Lockdown im März: Zwei übereifrige berittene sächsische Polizisten kamen damals vorbei und fragten uns, als wir hier an derselben Stelle saßen, ob wir beide zusammen in einem Haushalt leben würden. „Ähem… – nein“, antworteten wir damals wahrheitsgetreu. – „Oder seid Ihr wenigstens eine Lebenspartnerschaft?“ bohrten die Polizisten von ihren Pferden herab weiter, und es klang schon ein bisschen bedrohlich. Natascha-Lou und ich schauten uns unsicher an, dann nickten wir: „Ja, wir sind eine Lebenspartnerschaft“ riefen wir unisono. Wir wollten ja nicht ins Gefängnis. Und die Polizisten nickten auch und galoppierten zufrieden davon. – „Lockdowns bringen irgendwie mehr Verbindlichkeit in unsere Beziehung“, sagte Natascha-Lou damals und grinste, „meinst du nicht auch, Kurt?“ – Und wie wird es dieses Mal sein, Natascha-Lou?

Tag 27

Ich bin irgendwie mürrisch. Der Lockdown auf der Couch neben mir merkt das und sagt, ich solle mich mal nicht so haben oder wenigstens ein bisschen ästhetische Distanz aufbauen zu ihm. Und er liest mir zur Aufmunterung aus dem Briefwechsel irgendwelcher krassen Frühromantiker vor: „Alles geschieht in der Welt der Poesie wegen, die Geschichte ist der allgemeinste Ausdruck dafür, das Schicksal führt das große Schauspiel auf. – Achim von Arnim an Clemens Brentano am 9. Juli 1802.“ – Was soll ich dazu sagen?

Tag 31

„Der November ist vorbei, du kannst gehen“, sage ich und halte dem Lockdown meine Wohnungstür auf. – „He, mach das Brett zu, es zieht. Dein Demotivationstraining ist definitiv noch nicht zu Ende“, ruft mein Lockdown von der Couch herüber, „ – wir müssen deinem Lebens-Blues erst noch richtig auf den Grund gehen, Kurt. Gleiches heilt Gleiches, du weißt doch. Ich bin dein Coach, vertrau mir!“ Und mein Lockdown verkündet mir offiziell seine Verlängerung.

Tag 39

Alle Dinge um mich rum gehen einfach nicht mehr zum Friseur in diesem Lockdown, und sie verlieren allmählich ihre Fasson, verlieren wirklich ihre Fasson, so wie ich, das erleichtert einiges, denke ich, man toleriert mehr und man wird auch mehr toleriert in den Unterhosen-Zoom-Sitzungen aus dem Home-Office, oder man kauft sich für seinen Rechner second hand immer schlechter funktionierende externe Kameras oder man verpixelt sich absichtlich immer mehr, damit die Kolleg*innen nicht sehen, wie krass abgefuckt man inzwischen schon aussieht oder damit sie einen nicht zufällig irgendwann mit Reinhold Messner verwechseln. „Dieser Lockdown ist so was wie die Jogginghose für meine Haare“, sage ich meiner Chefin, als sie mich bei einem Video-Call darauf anspricht und grinse. Und als ZOOM-Hintergrundbild wähle ich ab jetzt immer die Villa vom toten Karl Lagerfeld an der Cote d’Azur.

Tag 43

Es ist 2. Advent. „Die Zahl der Neuinfektionen erklimmt ihren ultimativen Spannungs-Schwippbogen voraussichtlich zu Weihnachten“, verkündet Professor Wieler in den Tagesthemen, stelle ich mir vor – wie die Menschen im Erzgebirge. – „Darüber macht man keine Witze“, murmelt Natascha-Lou, die zum Kaffeetrinken vorbeigekommen ist, weil mein Lockdown-Coach sie angerufen hat, weil es mir angeblich ziemlich schlecht geht und weil ich es angeblich nicht zugeben will. Oder weil mein Lockdown sich selber für Natascha-Lou interessiert, denke ich und sperre ihn vorsorglich in den Besenschrank. Aber dann sitzt er doch mit uns zusammen um den Adventskranz, schlägt sich den Bauch mit Pulsnitzer Lebkuchen voll und flirtet mit Natascha-Lou. Wir alle leben in Ersatzhandlungen, denke ich, sogar der Lockdown.

Tag 46

Natascha-Lou kommt jetzt wieder öfter vorbei. Ich weiß noch immer nicht, ob es wegen mir ist oder wegen meines Lockdowns. Am Abend sitzen wir jedenfalls zu dritt mit mehreren Literflaschen Eierlikör bei mir auf der Couch, während der Adventskranz flimmert und diskutieren über Corona-Sprachmetaphysik und wie Sars Cov 2 nicht nur in unsere Körper, sondern zunehmend auch in unsere Sprache einzudringen beginnt und under Cover an all unsere Wörter andockt, die wir verwenden. Und dass alles, was wir von jetzt an sagen und denken und voneinander hören, schon längst infiziert ist irgendwie, und auch wenn wir es nicht merken, merken wir es doch: dass die ganze verdammte Corona-Sprache uns mehr und mehr fremdsteuert seit Wochen oder Monaten – uns von nichts anderem mehr reden lässt und uns keine anderen Metaphern mehr übrig lässt außer Inzidenzwerte und Wahrscheinlichkeitswolken der Ausbreitung des Infektionsgeschehens, die über uns hinwegdriften wie die Nachrichten der nächsten Tagesschau. Fuck!

Tag 47

Corona Sprachmetaphysik II

Heute, morgen, als Natascha-Lou und mein Lockdown noch schlafen, habe ich ein Gedicht geschrieben. Es heißt „Risikogruppenexistenzialismus“ und ich lese es ihnen vor, als sie aufwachen. Es geht so:

Risikogruppenexistenzialismus

In Akkusativobjekten leben: wer wen angesteckt hat usw.

in Inzidenzien leben

in Realitäten und Fluchten

in Flüchen und in trockenen Tüchern von

Intensivbetten

intubiert

In Transparenz &

in Optionen und Derivaten

in mathematischen Vorhersagen

& einmal sogar vielleicht noch

in Putin leben &

in Schallah

in Stahlgewittern &

im Kommunistischen Manifest von gestern

in Youtube-Vorträgen über The Great Reset, CIA & Bilderberg &

in Gottes Namen

in terstellar & am liebsten noch einmal

in allem leben –

alles in allem

leben und alles

auch noch einmal tiefer verstehen dabei

wie Batman, der das Corona-Virus brachte

oder wie ein Georg-Trakl-Gedicht aus der Schule

oder wie ein existentialistisches Redemanuskript

von diesem Michael Ballweg

Das wünschen wir uns

in den Schlauchlabyrinthen der Atemnotmaschinen

in der letzten Nacht

unserer Lungen

vor ihrer Hinrichtung

wir wissen ja auch nicht weiter

& ob wir das jetzt hier so sagen dürfen

Eure Risikogruppe

Tag 54:

Seit der Lockdown bei mir eingezogen ist, rufe ich jeden Tag meine Mutter und meinen dementen Vater an. Sie sind in der Risikogruppe, und ich kann sie nicht besuchen. Und seit 1. Dezember singen wir zusammen telefonisch verfremdete Weihnachtslieder, jeden Tag ein anderes – hin und zurückgekoppelt durch die morsche Fernsprechleitung von Leipzig nach Herne Nord ins Ruhrgebiet. Seniorenresidenz Abendsonne. Und wir berühren wirklich unsere Herzen damit. Heiligabend sind wir durch mit allem. – Wie soll es nun weitergehen?

Tag 61

Silvester. Das Jahr geht zu Ende. Immer neue Virusmutationen verstellten den Blick auf das Geschehen. Ich glaube, ich werde wirklich noch irre.

Tag 63

Heute haben wir zum ersten Mal ein telefonisches Frühlingslied gesungen, meine Mutter, mein Vater, mein Lockdown und ich: „Komm Lieber Mai und mache“ – schon am 2. Januar. Mal sehen, was das jetzt meteorologisch bringt.

Tag 64

Es schneit. – Ich schaue aus dem Fenster, denke an uns alle hier und schreibe ein meteorologisches Schamanen-Gedicht. Es heißt: „Schnee allein“ und geht so:

Schnee allein

Dem Schnee fällt immer etwas ein

er fällt und fällt

auf uns herein

und wir auf ihn

im Lockdownfall

und wissen auch nicht weiter

der Schnee der Schnee

allein

weiß immer weißer

Tag 65:

Nochmal Lockdown-Verlängerung im Anmarsch, sagt das Bundeskanzleramt, sagt auch der Lockdown auf meiner Couch. Ich werde wirklich langsam verrückt, sage ich. Home-Office-Blues XXL! Ich rufe Natascha-Lou an, um mich über die radikalen Therapiemethoden meines Lockdowns zu beschweren. Natascha-Lou sagt, sie könne mich verstehen, und ich solle jetzt am besten mal was tun, um meine Resilienz zu stärken. Als alter Agnostiker könne ich ja zum Beispiel einfach mal anfangen, an irgendwas zu glauben. Oder für irgendwas zu brennen, für was auch immer. „Einfach, um aus deinem seelischen Loch rauszukommen, Kurt.“ – Ich schalte das Telefon aus und beschließe kurzerhand, einfach mal an Homöopathie zu glauben oder an Allopathie mit Hydroxychloroquinoder noch besser: an das Impfen. – Und ich beschließe, sogar dafür zu brennen!

Tag 66

Pharmatraum

Ich habe nur wirres Zeug geträumt. Wie seit Wochen. Ich würde heute gern ein Gedicht schreiben, habe ich geträumt, das wie eine Schutzimpfung für uns alle wäre, eine kleine DADA-poetische Schutzimpfung, die stabile Antikörper ausbilden könnte auf unseren Lungenlappen und Schleimhäuten. Und ich würde schöne poetische Wörter erfinden dabei für all diese ganzen neuen Impfpräparate von Astrazeneca, Moderna, Sinovac, BioNtec oder Pfizer. Ja, ich würde als Poetry-Man-der-Stunde die schönsten Versprechens-Impfwörter der Welt erfinden, träume ich, damit die Menschen mehr Vertrauen fassten in die Leistungen der modernen Apotheken-Wissenschaft. – So wie die Russen das schon immer machen – träume ich – die sind ja die ultimativen Cracks in der weltweiten Impfstoffpoesie. – Das muss denen im Blut liegen. Kein Wunder: die hatten ja auch Puschkin und Majakowski! denke ich im Traum. Und deshalb können die so krass nice Poesie-Namen erfinden für ihre Impfstoffe wie Sputnik 5 zum Beispiel oder Nowichock 2020. – Das würde vielleicht wirklich die Impf-Zustimmungsrate in Deutschland erhöhen, wenn mir in diesem Traum auch so eine krasse DADA-Namens-Poesie für die ganzen neuen Impf-Präparate gelänge, denke ich. Oder vielleicht doch nicht? – Vielleicht reichen auch schon einfach die Namen der entsprechenden Pharmakonzerne aus, um daraus ein passables DADA-Gedicht zu performen, so wie dieses hier – DOPPELPUNKT: – träume ich, und sage dann dieses Gedicht auf, bei dem ich dann aber zur Sicherheit doch erstmal mit dem Namen einer Biermarke anfange und auch mit einer Biermarke aufhöre, um das deutsche Volk auch wirklich auf meine Seite zu bringen mit meinen Poetry-Lines – DOPPELPUNKT also:

Astra-Astra, Zenecastra

Moderna und Sinovac

Biontech-Pfizer ach wie krass da-

mit bashen wir Corona weg

All diese Pharma-Namen, träume ich, die wir seit Wochen kollektiv auswendig lernen, weil sie uns mit ihren Impfstoffen endlich in die Freiheit oder ins nächste Jahrtausend beamen werden als Menschheit und uns die tiefsten Träume erfüllen werden eines Tages: Endlich wieder ein Punkkonzert besuchen zu können zum Beispiel, träume ich, und dass ich das nie gedacht hätte, träume ich, dass ich mal eine Hymne auf die weltweite Pharmaindustrie dichten würde, oder in froher Erwartung ein Impfzentrum auf dem örtlichen Marktplatz betreten werde demnächst, wo Jens Spahn mich eigenhändig begrüßen und mir die Hand schütteln wird und mir dann einen Chip unter die Haut spritzt, mit dem ich von nun an alle Geheimdienste der Welt und die Bundesregierung kontrollieren kann – oder umgekehrt. All das habe ich geträumt heute Nacht. Und ich lese diesen Traum Natascha-Lou am Telefon vor, so als wäre er echt. Aber sie sagt, so wäre das eigentlich nicht gemeint gewesen mit dem An-was-glauben und Für-was-brennen. Und ich solle mal wieder runterkommen von meinem Psycho-Trip. Aber da bricht die Verbindung bricht ab. Und dann kommt Lockdown-Tag 67 und ich fliege als Schamane nach Washington zum Capitol, um die neue Weltordnung zu verhindern. Donald Trump hat gerufen und ich bin offenbar wirklich verrückt geworden.

Tag 68

Mein persönlicher Lockdown und Natascha-Lou haben mich in letzter Sekunde aus dem Capitol wieder zurück nach Hause auf die Couch verfrachtet. Ich stehe unter Schock, und um mich abzulenken, sagt mein Lockdown: „Stelle dir vor, wie es wäre, irgendwann in einem Corona-Leugner-Aussteiger-Programmen zu leben.“

– „Wie damals in den 80ern die Reste der RAF in der DDR“, antworte ich, „- nur harmloser!“ Und gehe ins Bett.

Tag 80

Ich erwache. Mein Lockdown und Natascha-Lou sitzen Händchen-haltend bei mir auf der Couch und sagen: Ich soll das alles mal lieber nicht so persönlich nehmen. Und ich könnte ja auch einfach in der 3. Person weiterleben, dort wo es möglich wäre zumindest, sagen sie. Mein Lockdown und Natascha-Lou scheinen inzwischen ein Paar geworden zu sein. Und ich bin vermutlich ab jetzt wirklich nur die 3. Person. Da muss ich jetzt einfach durch.

Tag 87

Mein Realitätssinn kehrt zurück, erzähle ich meinem Lockdown und Natascha-Lou. Ich habe geträumt: Ich bin bei einer Zoom-Sitzung plötzlich eingefroren, weil mein WLAN abschmiert, und als es sich wieder hochruckelt, bin ich auf einmal zugeschaltet zu einer fetten ZOOM-Session des Weltwirtschaftsforum Davos. Und alle Weltwirtschaftskapitäne starren mich an, weil ich jetzt sogar in der Sprecheransicht bin, und ich nutze die Gelegenheit und halte vor den 200 VIPs der Welt spontan eine Stehgreif-DADA-Rede über die Kunst des Artensterbens. Sie verstehen mich nicht, jedenfalls handeln sie nicht danach. Wie immer in den letzten 100 Jahren. Sagt auch Greta Thunberg und holt mich auf den Boden der Realität zurück und wofür es sich zu kämpfen lohnt. Zynismus war noch nie eine Lösung, sagt sie. Und dann ist der Traum zu Ende.

Tag 100

Die ersten 100 Tage sind vorbei, sagt mein Lockdown und grinst und versucht mich aufzumuntern und liest mir ein paar Zeilen von Albert Camus vor: „Die Kunst ist der Abstand, den die Zeit dem Leiden gibt.“

„Danke“, sage ich, „darüber muss ich nachdenken.“

Tag 108 bis 111:

Natascha Lou hat mir den therapeutischen Tipp gegeben, es doch mal mit dem Schreiben eines Lockdown-Romans zu versuchen. Ich beginne sofort damit.Drei Tage und Nächte lang läuft es auch ganz gut. Aber plötzlich, am vierten Tag, irgendwann abends, verliere ich den Faden und die Lust, und ich kriege den Social-Distance-Blues und gehe runter auf den Hof und setze mich mit meinen angefangenen Romanfiguren ans Lagerfeuer.

Und wir trinken eine Flasche Whisky zusammen oder zwei und erzählen uns gegenseitig Gespenstergeschichten aus unserem fadenscheinigen Leben. Und als es so richtig gruselig wird, kommt eine der weiblichen Hauptfiguren zu mir rüber und fängt an, mir über meine endlos-lockdown-verlängerten Locken zu streichen. Und irgendwann flüsterte sie mir ihren Namen ins Ohr. Undich flüsterte zurück: „Ja, ich weiß, ich habe Dich ja erfunden, Corinna Corona“, und ich grinse sie an.

Und Corinna grinst zurück und sagt, sie hätte mich ja auch nur erfunden – „Was man halt so macht aus Langeweile, wenn der Home-Office-Blues einen überschwemmt, Kurt.“ Und dass das mit der Realität ja gerade sowieso so eine Sache wäre, wer da in wessen Corona-Roman leben und eine Rolle spielen würde und wer dabei wirklich den Durchblick hätte und wer eher nicht, sagt sie auch noch.

„Ja, und je länger die Sache dauert“, antworte ich, „umso mehr Leute flüchten sich in irgendwelche krass-postmodernen Lockdown-Roman-Plots darüber, wer hier in dieser Welt von wem über die Wirklichkeit getäuscht wird und seit wann und warum. Und ob es mit der Gründung der WHO oder der Federal Reserve, oder der Russischen Revolution und Trotzki oder Deng Xiao Ping oder den Freimaurern angefangen hat oder mit den Illuminaten oder den ‚Novemberverbrechern‘ oder doch schon mit oder Dan Brown oder Dieter Nuhr!“

„Oder mit Platon“ ruft Corinna Corona, rollt ihre Augen, und holt Ockhams Rasiermesser raus. Und sie schlägt vor, wir sollten versuchen, uns selbst und unseren Romanfiguren gegenseitig die Pulsadern aufzuschneiden, um nachzuschauen, was an ihnen oder an uns wirklich echt wäre und was nur Fake. Und wir machen es auch. Und es fließt auch ein bisschen Blut, aber nicht viel, und tropft ins Lagerfeuer. Und weil es wieder zu schneien beginnt, torkeln Corinna und ich schließlich nach oben – in meine oder in ihre Wohnung. Und im Bad kleben wir uns gegenseitig kleine Trostpflaster auf unsere geöffneten Pulsadern. Und zu einem alten Blues-Song von John Lee Hooker beginnt Corinna Corona dann plötzlich, ihre Sachen abzustreifen, die ich ihr irgendwann am Anfang meines Romans so behutsam angezogen habe, und dann streift sie mir meine Sachen ab, die sie mir am Anfang ihres Romans so mühsam angezogen hat, und wir landen zusammen – na ja – je nach Realität – in ihrer oder meiner Badewanne.

„Äh, ich weiß nicht, ob das jetzt wirklich richtig ist“, murmele ich in diesem Moment, „– Man braucht immer einen gewissen Abstand zu seinen Romanfiguren, Corinna, – hab‘ ich mal in einem Roman-Schreib-Ratgeber gelesen, sonst kann man am Ende seine eigenen Gefühle nicht mehr richtig auseinanderhalten und die Leser ihre auch nicht.“

Aber Corinna Corona grinst nur: „Das mit den Lesern wird sowieso überbewertet, wer will schon Lockdown-Romane lesen später, wenn alles vorbei ist?! – Und im Übrigen ist das hier wahrscheinlich alles sowieso nur Projektion gerade zwischen uns. – Lass uns einfach das Beste daraus machen, Kurt.“

Und so hat wirklich alles noch einmal ganz neu anfangen in diesem Lock-Down-Roman – mit einem Blues von John Lee Hooker, Ockhams Rasiermesser und den Weiten der Badewanne.

Tag 112

Natascha-Lou sagt: „Kurt, das ist alles nur in deinem Kopf.“ Wie immer.

Usw.

(Eine Kurzfassung des Tagebuchs als Video ist Bestandteil der Home Edition der Lesebühne Schkeuditzer Kreuz vom Feburar 2021: https://www.youtube.com/watch?v=q2Kz8pvoXPI&t=3s )

Risikogruppenexistenzialismus – ein Corona-Gedicht

In Akkusativobjekten leben: wer wen angesteckt hat usw.

in Inzidenzien leben

in Realitäten und Fluchten

in Flüchen und in trockenen Tüchern von

Intensivbetten

intubiert

In Transparenz &

in Optionen und Derivaten

in mathematischen Vorhersagen

& einmal sogar vielleicht noch

in Putin leben &

in Schallah

in Stahlgewittern &

im Kommunistischen Manifest von gestern

in Youtube-Vorträgen über The Great Reset, CIA & Bilderberg &

in Gottes Namen

in terstellar & am liebsten noch einmal

in allem leben –

alles in allem

leben und alles

auch noch einmal tiefer verstehen dabei

wie Batman, der das Corona-Virus brachte

oder wie ein Georg-Trakl-Gedicht aus der Schule

oder wie ein existentialistisches Redemanuskript

von diesem Michael Ballweg

Das wünschen wir uns

in den Schlauchlabyrinthen der Atemnotmaschinen

in der letzten Nacht

unserer Lungen

vor ihrer Hinrichtung

wir wissen ja auch nicht weiter

& ob wir das jetzt hier so sagen dürfen

Eure Risikogruppe

Die zweite Welle oder: Loslassen ist der Weg zu allem

  Sie erwarten mich gleich im Backstage hinter der Bühne. Sie tragen lange schwarze Ledermäntel und dunkle Sonnenbrillen oder sie haben gefiederte Kleider an, Krähenaugen, Tiermasken und Geweihe überm Kopf. Schwelende Räucherbündel in ihren Händen
 „Kurt“, murmeln sie mit kehligem Obertonsound, „Kurt, nu‘ ist aber mal gut“, murmeln sie, „ – nu‘ ist aber mal gut mit deinem ganzen literatur-schamanistischem Kaspertheater da vorn auf der Bühne immer – und mit deiner fucking Ironie dabei auch!“ Und ob ich noch immer nicht begriffen hätte, dass uns allen die zweite Welle bevorstünde, obertongurgeln sie hinterher und dass sie mich deshalb jetzt mitnehmen würden und: Nein! – Sie seien nicht das Kommando Spezialkräfte des Leipziger Gesundheitsamtes, und sie seien auch nicht vom Sächsischen Verfassungsschutz, sondern einfach nur Abgesandte der Schamanistischen Internationale! Und warum sie mich mitnehmen würden? – Um aus mir verdammt noch mal endlich einen richtigen Schamanen zu machen – „einen, der nicht immer nur sinnlose Quatsch-Rituale zelebriert, Kurt, sondern einen, der es versteht, die richtigen schamanischen Schutz-Zeichen in die Luft zu taggen und der auch die richtigen Räucherstäbchen verwendet dabei und der die Menschen auf echte schamanische Seelenreisen mitzunehmen vermag, auf Reisen, die ihnen wirklich helfen, diese irre Gegenwart zu überstehen. – Kapiert, Kurt?“ 
 Und all die gefiederten Zaubermänner und Zauberfrauen im Backstage meines Lebens schauen mich etwas bedrohlich an. Und dass es in diesen Zeiten gerade Leute wie mich bräuchte, um die Welt zu heilen, obertönen sie weiter in meine Richtung und dass keine Widerrede möglich sei. Und dabei nebeln sie mich ein in gigantische Beifuß-Schwaden, bis ich zu husten und zu röcheln anfange als hätte ich Corona, und sie schleppen mich zu ihrem spirituellen Ford-Transit-Transporter mit Dieselantrieb im Hinterhof, und dann verliere ich das Bewusstsein.
  
 Ich wache auf in einem stillgelegten Hangar auf dem Flughafen Schkeuditz. Um mich herum im grellen Neonlicht mehrere hundert weitere Beifuß-vernebelt dreinblickende displaced Persons.
 Ein Knacksen in der Lautsprecheranlage. Alle schauen nach vorn – auf die zur Rednertribüne umgebaute Pilotenkanzel eines abgewrackten Lufthansa-Airbus. Dort steht mit Jogginghose, Fellweste und Joseph-Beuys-Hut eine wundersame Art Schamanin: „Die Geister mögen mit Euch sein! Herzlich willkommen liebe Ex-Mitarbeiter*innen von Tui-Fly und Lufthansa, Piloten, Boden- und Bordpersonal und liebe sonstigen Luftikusse, die wir letzte Nacht in Leipzig und Umgebung auftreiben konnten zu diesem Schamanenfluggrundkurs 1a und b – einer Umschulungsmaßnahme des Arbeitsamtes Schkeuditz in Kooperation mit Lufthansa, finanziert vom Bundesamt für Luftfahrt und Umweltschutz. Innerhalb der nächsten 24 Stunden werden Sie alle mit unserer Hilfe hier nicht nur Ihren Kleinen Schamanenflugschein machen, sondern wir werden Sie darüber hinaus zu zertifizierten spirituellen Flugbegleiter*innen und Seelenreise-Coaches ausbilden. Und damit übergebe ich das Wort an den Bundespräsidenten!“
 Und tatsächlich schwebt plötzlich auf reichlich schamanistische Weise der Astralleib von Frank Walter Steinmeier aus dem Off in den Hangar und landet auf der Tribüne. Der Bundespräsident rückt seine Brille zurecht, zündet feierlich die bereitstehende Räucherkerze eines original-erzgebirgischen Schamanen-Rachermännels an, hält das Männel beschwörend vor sich in die Luft und räuspert sich wie bei einem Staatsbesuch: „Ja, Leute, ungewöhnliche Zeiten verlangen ungewöhnliche Maßnahmen. Corona und Klimawandel zwingen uns zum ökologischen Umbau unserer gesamten Luftfahrt- und Tourismusindustrie. Unsere Bürger werden jetzt und in Zukunft nie wieder so viel mit dem Flugzeug durch die Welt jetten können wie früher. Pandemie hin, ökologischer Fußabdruck her. Gleichzeitig wissen wir aber alle, dass gerade wir Deutschen dasjenige Volk sind, das schon seit alters her das größte seelische Fernweh hat. Anders gesagt: gerade wir Deutschen sind am meisten von allen Völkern dieser Erde auf touristische Fernreisen angewiesen, weil wir es zu Hause auf Dauer einfach nicht mit nur unseresgleichen aushalten. Das hat uns die Geschichte gelehrt: Dank des Aufbaus einer florierenden Passagierflug- und Tourismus-Industrie konnten wir unser urdeutsches metaphysisches Fernweh in den letzten 75 Jahren glücklicherweise vor allem mit zivilen Mitteln realisieren, während wir uns noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei unseren Ausflügen über unsere Landesgrenzen hinweg regelmäßig immer kollektiv in Uniformen gezwängt und Und morgen die ganze Welt! gebrüllt haben. Nun ja, und damit eben das nicht wieder vorkommt, müssen wir unseren deutschen Staatsbürgern jetzt in Zeiten von Corona und Klimawandel eben neue Arten von Reisen ermöglichen: Schamanenreisen zum Beispiel! Nach Innen geht der Weg, Leute!“ donnert die Stimme des Bundespräsidenten ein Novalis-Zitat durch den trostlos neongelb flimmernden Hangar. „Auf zur großen Umschulung!“ Und dann entschwebt Steinmeiers Astralleib ebenso unverständlich aus dem Hangar, wie er gekommen ist.
 Und ich denke Drogen! Das alles hier muss irgendwas mit Drogen zu tun haben, ohne Drogen kann ich mir nicht erklären, was ich hier gerade erlebe, und Steinmeier ist vermutlich der Boss der deutschen Peyote-Mafia! 
 „Nein, das alles hier hat nichts mit Drogen zu tun,“ fährt vorne die Jogginghosen-Schamanin fort, als hätte sie meine Gedanken gelesen, „das alles hier ist real! – Und ich verspreche Ihnen: Sie alle hier im Raum werden innerhalb der nächsten zwölf Stunden lernen, genauso astrein durch den Raum zu fliegen wie der Bundespräsident da eben. Und nach 24 Stunden werden Sie es sogar anderen Menschen beizubringen vermögen und sie bei ihren Seelenflügen begleiten. Und mit diesen Skills kann dann jede und jeder von Ihnen ab übermorgen sein eigenes schamanistisches Reisebüro in Mockau, Großpösna oder in der Leipziger Innenstadt aufmachen. Peace, Love and Understanding – How!“
 Und fast wie bei Harry Potter erscheinen plötzlich hunderte fliegende Schamanentrainer*innen über unseren Köpfen und jede/r greift sich einen der verängstigten Umschüler und zerrt ihn oder sie zur Ausbildung in die Lüfte und jagt mit ihnen aus dem Hangar raus in die Nacht. 
 Nur ich bleibe übrig und starre irritiert in die leere Halle, als die Rednerin vorn auf der Pilotenkanzel durch eine unscheinbare magische Bewegung ihrer Finger ihren Körper plötzlich in eine rotierende Bewegung versetzt, sich in die Luft erhebt und wie ein Pfeil auf mich zugeschossen kommt. 
 Sie landet direkt 20 Zentimeter vor meinem Gesicht, schaut mir sieben Minuten lang in die Augen – Hypnotherapie. „Na dann wollen wir mal, Kurt“ sagt sie schließlich und legt den Beuys-Hut neben sich auf den Boden. Dann streift sie die Fellweste ab. Darunter kommt ein martialisch bluttriefendes Death-Metal-T-Shirt um Vorschein Auf dem steht fett mit rotem Horrorschriftzug: „Loslassen ist der Weg zu allem!“ 
  
 „Witziges T-Shirt!“ murmele ich und grinse verkrampft, um etwas Leichtigkeit in die Sache zu bringen, so wie immer im Leben, wenn ich mich seelisch in die Ecke gedrängt fühle. 
 Aber die Schamanin schlägt mein humoriges Kommunikationsangebot aus:  „So: die Ausbildung für den Kleinen Schamanenflugschein umfasst zwei Transformationsstufen, die zum Seelenflugbegleiter dann noch eine dritte“, doziert sie vollkommen ironiefrei, „ – genauer gesagt geht es um drei Loslass-Übungen – und das Ziel der Übungen ist… na, Kurt? – Du hast doch so viel Ethnologie-Bücher über Schamanismus gelesen: Was ist das Ziel der Loslass-Übungen bei der Schamanenausbildung?“
 Ich verspüre jetzt doch eine gewisse Ironie in der Stimme meiner Trainerin und starre sie unsicher an: „Vielleicht: Das Ego muss sterben“, murmele ich.
 „Ja, bla, bla: ‚Das Ego muss sterben!‘ – Vielleicht! – Aber das ist nur ein Satz, den dein Kopf sagt, Kurt! – Aber noch nicht deine Seele und auch noch nicht dein Körper! Die sind alle noch total verpanzert – deine Soul und dein Body auch! Was wir deshalb zuerst machen müssen, ist: dich zu öffnen, dich wirklich zu öffnen. Und die Öffnung geschieht über die Angst: Das ist die erste Übung für alle Schamanenanwärter*innen dieser Welt, dass man Euch radikal Eurer Angst ausliefert. Wir Trainer*innen nennen diese Übung die Schwimm-zum-Krokodil-Übung. Und sie findet heute Nacht auf unserem Outdoor-Trainingsgelände ein paar Kilometer südlich von hier am Fluss Unstrut statt. Da fliegen wir jetzt hin.“ Und schon klemmt mich die Schamanin wie eine Spielzeugpuppe unter ihre Achseln und wir jagen aus dem Hangar hinaus unter den Sternhimmel und dann dem aufgehenden Mond entgegen Richtung Süden. Irgendwann höre und sehe ich tatsächlich die Unstrut ein paar Meter unter mir plätschern. Ist ja wild romantisch eigentlich, denke ich, so ein nächtlicher Ausflug in der warmen Achselhöhle eine Schamanen-Frau mitten in einer silbernen Oktobermondnacht, denke ich. Bis ich etwas genauer hinsehe, warum denn das Wasser da unter uns so fröhlich vor sich hinplätschert. Dann denke ich den romantischen Quatsch nicht mehr, denn unter uns blitzen hunderte spitze weiße Zähne in langen Reihen im Mondlicht und ab und schnappen sie sogar nach oben zu uns hinauf. 
 „So Kurt, dann ist es jetzt so weit, die Schwimm-zum Krokodil-Übung beginnt. – Ich erwarte Dich dann in fünf Minuten drüben am Ufer, oder was von Dir übrig geblieben ist wenigstens. Bei 3 geht’s los. Viel Glück.“ Und sie lockert bereits ein ganz klein wenig ihre Achselmuskeln, mit denen sie mich noch immer zwei, drei Meter über der Wasserfläche und über den gierigen Krokodilmäulern in der Luft festhält. Schon zählt sie den krassesten Angst-Countdown meines Lebens runter: 3-2-1- … und dann lässt sie mich wirklich – fallen!
  
 Fünf Minuten später schwemmen die Reste meines Egos tatsächlich prustend und röchelnd drüben am Ufer des Flusses an, wo die Schamanentrainerin mich schon feixend erwartet: „Na Kurt, alter Literaturschamane, haste mit den Krokodilen Friedenspfeife geraucht und ihnen was von Novalis oder Carlos Castaneda vorgelesen unterwegs?“ 
 „Fuck“, schreie ich, „ich hätte sterben können! – Steck Dir Deine verdammte Ironie sonstwo hin!“   Aber die Trainerin bleibt ganz ruhig: „Kurt, sprich mir einfach nur nach: Das Ego muss sterben, damit wir leben können!“  
 „Das Ego muss sterben, damit wir leben können!“ röchle ich und kotze mit dem letzten Wort einen halben Eimer Wasser vor die Füße der Schamanin. 
 „Na, wir kommen der Sache also näher“, reagiert diese ganz gechillt – „Dann auf zur zweiten Übung, Kurt! Wir nennen sie die Die-Abstandsregeln-beachten-Challenge!“ Und die Trainerin zerrt mich auf ein schmales Plateau 50 Meter oberhalb des Flussufers. Oben wirft sie den Scheinwerfer ihres magischen dritten Auges auf der Stirn an und funzelt damit durch die Dunkelheit, bis der Lichtkegel sich auf ein großes mit Goldfolie umwickeltes Papprohr fokussiert, das da irgendwo auf dem Boden rumliegt.
 „Na was ist das denn?“ fragt die Schamanin scheinheilig.
 „Ein Hipster-Didgeridoo-aus Plagwitz“ murmele ich, „hab ich selbst mal gebaut so’n Prototyp.“ 
 „Wissen wir doch alles, Kurt! – Aber schau mal genau hin: Fällt dir was auf?
 „Nö, is‘n bisschen angegammelt inzwischen vielleicht das Didgeridoo.“
 „Na, schau mal auf die Länge.“
 „Was ist mit der Länge?“
 „Na, wie lang ist das Didgeridoo denn?“
 „1,50 oder 2 Meter vielleicht“, sage ich 
 „Na – und?! – Macht es Click?“
 „Nö!“
 „Mann, Junge, Kurt – die Krokodile haben dir wohl die falschen Synapsen im Gehirn weggefressen: 1,50 bis 2 Meter – das sind genau die Corona-Abstandsregeln. Klaro?“
 „Klaro – aber was bitteschön haben die Corona-Abstandsregeln jetzt mit Schamanismus zu tun? Soll ich mehr Social Distancing wahren gegenüber ironischen oder zynischen Trainerinnen?“ Ich grinse unsicher.
 „Nein Kurt – die schamanistische Hauptbotschaft lautet nicht: Praktiziere mehr Social Distancing zu anderen Menschen, sondern: Praktiziere more social distancing zu dir selbst, Alter! Mit Hilfe dieses goldenen Rohres wirst du jetzt lernen, in Distanz zu deiner eigenen Biographie zu gehen, Kurt!“
 Und der Morgen dämmert, und sie gibt mir sieben kleine gesichtslose Voodoopupen in die Hand und jede Puppe steht für eine Rolle die ich in meinem Leben gespielt habe oder noch immer spiele – Sohn, Vater, Philosoph, Streuobstgärtner, Lebenspartner in drei gescheiterten Beziehungen, Anti-Monsanto-Aktivist, und als letztes muss ich auch noch die letzte Voodoopuppe mit meiner Rolle als Literaturschamane Kurt Mondaugen in Didgeridoo-Abstandsweite hinter mir ablegen und mich von ihr verabschieden. Und gerade in diesem Moment geht die Sonne auf. – Krasses Timing!
 „Und, wie fühlst du dich, Kurt? Wer bist du jetzt, wo du alle deine Rollen hinter dir gelassen hast?“ 
 „Niemand“ sage ich – und denke: Niemand ist definitiv immer die beste Antwort, die man in unübersichtlichen Situationen geben sollte, wie Odysseus vor 3000 Jahren als er bei den einäugigen Zyklopen zu Gast war und genau diese Antwort ihm am Ende das Leben rettete.
 Und ich schaue meine Trainerin an: Wenn sie ihr Stirn-Chakra als Taschenlampe leuchten lässt – sieht sie da nicht wirklich ein bisschen aus wie der einäugige Zyklop Polyphem, und erinnert sie mich nicht andererseits auch ein bisschen an meine letzte therapeutische Freundin Natascha-Lou Salomé.
 „Hör auf zu träumen!“ ruft die Schamanin zu mir rüber. „Schlag jetzt lieber mal mit deinen Flügeln!“ Welche Flügel?, denke ich und wedele etwas genervt mit den Armen.  „Wowowowow!“ höre ich mich schreien und schwebe schon vier – acht – zwanzig Meter schräg links weg nach oben in die Luft und immer weiter. 
 „Was ist das denn!?“ schreie ich und presse meine Arme vor Schreck eng an meinen Körper, wodurch ich aber höhenmäßig krass absacke und dabei dem Flusspegel samt Krokodilzähnen gefährlich nahe komme. – „Um Gottes willen!“ – Mit den nächsten drei kräftigen Flügelschlägen bin ich schon in der unteren Stratosphäre, was aber irgendwie auch nicht cool ist, oder jedenfalls „cool“ nur in einem sehr wörtlichen und wegen der Eiseskälte ungemein schmerzhaften Sinne. Und ich lasse mich aus 10.000 Metern schnell wieder runtergleiten auf nur ungefähr 50 Meter mittlere Schamanenflughöhe überm Unstruttal. Geil, denke ich, wird ja immer besser, denke ich und drehe mich auf den Rücken, schwurbele ein paar Loopings und lande grinsend wieder neben meiner Trainerin. 
 „Na, geht doch“ sagt sie lapidar und hängt mir eine einzelne silberne Krähenfeder an einem schmalen Lederband um den Hals, nicht ohne mich dabei bedeutungsschwanger auf die Stirn zu küssen und zu raunen: „Herzlichen Glückwunsch, Kurt, zum Kleinen Schamanenflugschein 1a. Und damit kommen wir auch schon zum entscheidenden dritten Teil deiner Ausbildung. Sie wird dich befähigen, in Zukunft selber als schamanischer Seelenflugbegleiter für andere Menschen zu arbeiten und den Corona-bedingten Tourismus-Amok in Deutschland zu verhindern. Wir nennen diesen dritten Teil der Übung die Novalis- oder etwas vulgärer auch die Grufti-Challenge. Bei der Übung geht es darum, dem eigenen Tod zu begegnen und ihn mit Poesie zu überwinden. Dazu muss ich dich jetzt in diesem Sarg dort drüben stecken und dich samt Kiste 12 Meter tief in die Erde eingraben. Und erst nach genau 12 Stunden, wenn die Sonne da drüben schon längst wieder untergegangen ist, darf ich dich wieder ausbuddeln. Ein Hinweis schon mal vorab: Teil dir die Luft da unten im Sarg gut ein! Sie reicht normalerweise genau aus für diese 12 Stunden – aber nur wenn man ganz normal atmet und nicht hyperventiliert oder in Todesangst rumschreit. Und du hast außerdem noch eine Aufgabe während dieser 12 Stunden: Du musst dir in deinem Grab da unten ein eigenes überzeugenden Gedicht zum Thema Loslassen und Sterben ausdenken. Und wenn ich dich dann in 12 Stunden wieder ausbuddele und aus deinem Sarg raushole, wird hier oben neben mir die offizielle Gutachter-Kommission der Schamanistische Internationale stehen. Und sie werden dich – Gesetz den Fall, du lebst noch – dazu auffordern, Ihnen dein selbstausgedachtes Sterbe-Gedicht vorzutragen! – Aber ich warne Dich, wenn dein Gedicht die Kommissionsmitglieder nicht berührt, dann muss ich Dich für den zweiten Versuch nochmal 12 Stunden in die Erde versenken und immer so weiter – manche Novizen graben wir hier an der Unstrut schon seit hundert Jahren immer wieder ein und aus, aber manche von Euch Menschen werden wohl nie echte Poetry Slammer, nicht mal unterirdische. Na ja!“
 Und mit diesen Worten fesselt mich die Schamanin im Handumdrehen an Händen und Füßen, stopft mich in den Sarg und vergräbt mich wie angedroht mit einem Zauberspaten 12 Meter tief in den Hügel. 
 In welchen krass apokalyptischen Panikzuständen ich die nächsten 12 Stunden verbringe, das will niemand von Euch wirklich genauer wissen, und das überspringe ich jetzt deshalb lieber. Jedenfalls buddelt mich meine Schamanen-Trainerin irgendwann nach Sonnenuntergang doch wieder aus der Erde, und ich lebe auch tatsächlich noch irgendwie und japse wie ein Hund als die Trainerin den Sargdeckel öffnet. Sie sieht jetzt noch ein bisschen mehr aus wie meine Ex-Therapeutin Natascha-Lou. Aber ich kann da nicht lange drüber nachdenken, denn vor mir steht die zwölfköpfige schamanistische Prüfungskommission: „So und nun sagen Sie mal fix Ihr Gedicht auf, Herr Mondaugen! Wir haben hier nicht ewig Zeit!“ Und ich stelle mich mit zitternden Beinen neben meinen Sarg und rezitiere das kurz vorm Koma ausgedachte erste ultimative Loslass- und Sterbegedicht meines Lebens. Es heißt:
 
 Das letzte Tipi meines Lebens
  
 Das letzte Tipi meines Lebens
 es bestand aus Kortison und Morphium
 und es wurde unten am Fluss errichtet
 für mich, genau da, wo es brannte 
 sagte die Ärztin
 in der Dämmerung 
 nicht zu löschen 
 der Schmerz kennt keine Verwandten
 sagte sie immer
 diese alte Indianerin der Zeit
 mit Palliativstimme
 oder das Morphium 
 ich weiß es nicht mehr so genau
 und meine Kinder kamen noch einmal
 vorbei, um mich zu besuchen
 auf ihren wilden Präriepferden 
 und sie zeigten mir ihre neuesten, 
 Tablets und Mokassins 
 und ihre Zeugnisse
 und was aus ihnen werden würde eines Tages
 ich versuchte es herauszulesen
 aus ihren Gesichtern 
 aus der Dämmerung 
 dort wo es brannte
 und auch du kamst vorbei, Liebste
 legtest Beifuss auf meinen Bauch 
 küsstest mich noch einmal
 eine halbe Ewigkeit
 an allen längst vergessenen
 Stellen meines Körpers
 Und ich lag dann mit dir im letzten Tipi meines Lebens
 Und dann kam noch der große Geist und drückte mir die Augen zu
 Bis zum nächsten Mal, Kurt
 sagtet ihr alle – How!
  
  
 Und am nächsten Tag eröffne ich zusammen mit ein paar anderen durchgekommenen Prüflingen im ehemaligen Karstadt-Gebäude in der Leipziger Innenstadt  das erste sächsische Schamanenflugausbildungs- und -reisebüro für Endverbraucher. Und wir nennen es: Die zweite Welle oder:  Das Leben ist Kontaktverfolgung!
  
   

„Schöner verschwören!“ – Verschwörungstheoriefestival ab 15. Mai hier online

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„Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er phantasiert!“ skandierte einst Friedrich Schiller und schrieb anschließend die Ode an die Freude. – Aus aktuellem Anlass veranstaltet das Schamanismusfestival deshalb in Zusammenarbeit mit Widerstand 2020 und der Konstruktivistischen Internationale vom 15. Mai bis 15. Juni hier auf dieser Webseite das erste offizielle deutschsprachige Verschwörungstheoriefestival. Unter Beachtung aller Regeln der gehobenen ontologischen Toleranz werden von einer hochkarätigen Fachjury unter allen Einsendungen die wahrhaft berauschendsten und phantasiebeflügelndsten Verschwörungstheorien ausgewählt und veröffentlicht.  Alles ist erlaubt, was die Phantasieorgien Tolkiens daneben verblassen lässt. Möge die ästhetische Einbildungskraft fröhlich kapriolisieren! Oder um es mit Bruno Latour zu sagen: Heraus zum „freien Gebrauch kraftvoller Erklärungsmuster aus dem sozialen Nirgendwo“! Go! Wir haben die Kunst, damit wir an der Verschwörung nicht zugrunde gehen! Usw. – Bewerbungen bis 31. Mai an: deus@absconditus.de

Bruno Latour_ Elend der Kritik

Das Team von schamanismusfestival.wordpress.com wünscht eine gute Reise.

German Angst / Stroh zu Gold spinnen oder: Placebos für alle

Selbsterfahrungsbericht von Kurt Mondaugen – vorgetragen am 11. März 2020 bei der letzten Vor-Corona-Lockdown-Ausgabe der Lesebühne Schkeuditzer Kreuz sowie am 26. März 2020 im Rahmen des Livestreamcamp des Noch besser leben:

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„Herzlich willkommen meine Damen und Herren, wir sitzen hier heute zusammen, weil es aus Sicht der Bundesregierung  gerade etwas zu viel Angst in diesem Land gibt, zu viel Angst, die leider manchmal in Panik oder in Hass umschlägt, Angst vor Flüchtlingen und Ausländern zum Beispiel, bei der Menschen am Ende durchdrehen, in den Untergrund gehen oder zum Unister oder Prepper werden oder anfangen, wahllos Leute auf der Straße zu erschießen. Das wollen wir nicht“, Horst Seehofer hält kurz inne und blickt in die 40köpfige Expertenrunde, die sich im Sitzungssaal des neugegründeten Deutschen-Angst-Ministerium versammelt hat. Dann schaut er aus dem Fenster rüber zum Brandenburger Tor und seufzt. „Und jetzt kommt auch noch Corona dazu! Wir sind hier echt am Ende unseres Lateins! Was wir jetzt brauchen ist radikales Brainstorming, meine Damen und Herren.“

Und Jens Spahn nickt eifrig und ergänzt: „Und genau dafür haben wir Sie hier heute unter strengster Geheimhaltung nach Berlin eingeladen. Denn Sie alle sind ausgewiesene Spezialisten in Sachen Angstbewältigung – und zwar mit ganz unterschiedlichen Methoden, was wir für dieses Brainstorming hier heute total wichtig finden. Und wir begrüßen Sie hier also alle ganz gleichberechtigt nebeneinander, liebe Angsttherapeutinnen, Yoga-Lehrerinnen, Mentalcoaches, Reiki-Spezialistinnen, Vertreter der Pharmaindustrie, Naturheilpraktikerinnen, Yin-YANG-Akupunkteurinnen und liebe Schamaninnen und Schamanen. Und nun erwarten wir mit Spannung Ihre Ideen zur Bewältigung von German Angst im Jahr 2020.“

Jens Spahn schaut auffordernd in die Runde. Sein Blick bleibt schließlich bei meiner psychoanalytischen Therapeutin Natascha-Lou Salomé hängen und dann natürlich bei mir, der ich neben ihr sitze. Fuck, denke ich, worauf habe ich mich da nur eingelassen, und ich bereue den Moment, als Natascha-Lou mich heute Morgen aus dem Schlaf gerissen und überredet hat, mein Schamanengeweih aufzusetzen und kurzfristig mit ihr auf Staatskosten per ICE nach Berlin zu fahren!

Aber schon gibt es die erste Wortmeldung. Der Pharmasparten-Chef von Bayer-Monsanto räuspert sich: „Sehr geehrte Herren Minister, ich schlage vor, dass wir angesichts der dramatischen Lage als Erstintervention die gesamte deutsche Bevölkerung für vier Wochen mit einem neuartigen neuroleptischen Angstblocker ruhigstellen. Zum Glück haben wir das dazu benötige Arzneimittel auch gerade in ausreichenden Mengen zur Verfügung. Denn wie Sie wissen, dürfen wir Glyphosat jetzt als Pflanzenschutzmittel in der Landwirtschaft bald nicht mehr einsetzen, was unsere Forschungsabteilung in den letzten Monaten veranlasst hat, mal ein bisschen rumzuexperimentieren, um rauszukriegen, in welchen Bereichen die Überkapazitäten an Glyphosat sonst noch sinnvoll Verwendung finden könnten. Und siehe da: im Laborversuch mit Mäusen zeigte Glyphosat eine dauerhaft stabile sedierende Wirkung.“

„Hm“ murmelt Horst Seehofer und kratzt sich am Kopf, „Und wie stellen Sie sich die Verabreichung des Glyphosats an die Bevölkerung vor?“

„Na, so wie früher“, antwortet der Chef von Bayer-Monsanto, „so wie die Amerikaner damals Agent Orange an die Bevölkerung in Vietnam verteilt haben: mit Flugzeugen! – Einfach großflächig drübersprühen über alle deutschen Städte und Dörfer – am besten mehrmals am Tag – mit den durchgerosteten löchrigen TransAll-Maschinen der Bundeswehr oder zur Not mit Kampfjets.“

„Aber … Aber macht das nicht Kondensstreifen am Himmel“ fragt Jens Spahn etwas zögerlich zurück. „Sie wissen schon: Kondensstreifen am Firmament sieht immer gleich ein bisschen nach Verschwörungstheorie aus und weckt vielleicht neue Ängste in der Bevölkerung und es lässt sich kommunikativ auch nur ganz schlecht vermitteln. Und die Aluminium-Produktion in Deutschland kommt schon jetzt nicht hinterher.“

„Ich bin mehr für Baldrian-Tropfen“, brainstormt ein etwas klein geratener Spezialist für Kräuteressenzen aus dem sächsischen Erzgebirge dazwischen, „Einfach überall ins Trinkwasser mischen das Zeug und ab damit in die Wasserhähne!“

„Hm“ fragt Spahn zurück: „Und wieviel Baldrian-Tinktur bräuchten wir, um die ganze deutsche Trinkwasserproduktion vier Wochen lang angstlindernd umzustellen!“

„Na, so 9 Milliarden Liter sollten genügen, um die größte Panik-Attacken aus der gesamtdeutschen Seele zu schwemmen.“

„Und wieviel Liter haben Sie und Ihre Kräuterkollegen aktuell vorrätig?“

„Na…“, das erzgebirgische Kräutermännlein rechnet im Kopf nach „na vielleicht so 2000 Liter insgesamt.“

Jens Spahn verdreht die Augen. „Weitere Vorschläge?“

„Fliegerschokolade an alle verteilen, wie damals bei Adolf, das hilft immer gegen Angst“, tönt  jetzt der offizielle Gesundheitsexperte der AFD vom anderen Ende des Saales herüber.

Peinlich berührtes Schweigen im Raum.

„Na ja, vielleicht kann ja auch einfach mal nur die Bundeskanzlerin eine beruhigende Fernsehansprache an die Nation halten“ meldet sich die zaghafte Stimme eines Staatssekretärs aus dem Hintergrund.

Seehofer schläft das Gesicht ein. „Quatsch! Wir brauchen was Handfestes!  Die Menschen trauen bloßen Worten nicht mehr. Was soll die Kanzlerin denn überhaupt sagen?“

„Vielleicht die Einführung des bedingungsloses Grundeinkommen ankündigen?!“ schlägt eine soziale Angsttherapeutin vom Paritätischen Wohlfahrtsverband vor.

Seehofer und Spahn rollen die Augen: „Nur realistische Vorschläge bitte, Kollegen!“

Stille im Saal. Alle starren nervös auf die Tischplatte vor sich. Nur Natascha-Lou, die neben mir sitzt, zieht seit fünf Minuten entspannt und meditativ ihren Teebeutel hin und her durch das sich langsam abkühlende Wasser ihrer Teetasse. Und sie fixiert dabei erst Seehofer und dann Spahn. Und schließlich spricht sie in die Stille hinein: „Also, Kollegen, ich hätte da was. Schau‘n Sie her, was halte ich hier in der Hand?“

„Einen … Teebeutel?!“ – antwortet Jens Spahn zögernd.

„Ja, einen Teebeutel! Und was befindet sich am oberen Ende des Teebeutels?“ fährt Natascha-Lou fort, aber sie wartet die Antwort nicht ab: „Ein kleines leicht kartoniertes Stück Papier, ein Stück Papier, auf das man was draufdrucken kann, wenn man will – einen angstauflösenden Satz oder Spruch zum Beispiel – genau mit solchen klug und angstlindernd beschrifteten Teebeuteln könnten wir wirklich die Menschen erreichen – und zwar Körper und Geist gleichzeitig! Denn Tee trinkt jeder, oder jedenfalls fast jeder – und für die, die keinen Tee trinken, machen wir eben Kaffee rein in die Teebeutel. Und dann verteilen wir 80 Millionen davon kostenlos als Placebo an die Bevölkerung. Was da drin ist in den Teebeuteln – ob Baldrian oder Fenchel Anis Kümmel oder Muckefucke – ist letztlich egal. Es kommt vor allem auf die Sprüche an, die auf den Teebeuteln draufstehen. Die müssen knallen, die müssen die Leute voll ins Herz treffen und umhauen und ins Drüber-Nachdenken bringen gleichzeitig. Also nicht wie diese üblichen müden Wellness-Sprüche, die man von den Teebeuteln der deutschen Yogitee-Mafia kennt: ‚Teile dein Glück und werde glücklich!‘ – Diese Art Sprüche liest man bestenfalls und zuckt mit den Schultern und sagt: ‚na ja!‘ und fristet sein kleines angstgeschwärztes Leben trotzdem weiter so wie bisher. – Nein ich meine so echte Sprüche, die das Leben und das mentale Programm von jeder und jedem einzelnen von uns, krass schlagartig verändern, Sprüche über die man mindestens ein Jahr lang permanent nachdenken und meditieren muss, wenn man sie liest, weil sie einen voll aus der Wirklichkeit flashen in ihrer semantischen Tiefe. Und genau dieses permanente Drüber-Nachdenken macht dann die Angst weg. Und der Rest ist wie gesagt Placebo. Und zufällig hab ich unter meinen Klienten den am besten geeignetsten Texter dafür – für diese Art Sinn-Sprüche.  Und ich hab ihn sogar mitgebracht. Er hat das mit der Angstverwandlung wirklich voll drauf, weil er da selbst schon tausendmal durchgegangen ist durch diese German Angst und sie durchlitten hat in seinem täglichen Hirn-Synapsen-Spaghetti aus zu viel Hirschgeweihen, Schamanismus-Karaoke und Kafkaistik.“ – Und Natascha-Lou deutet auf mich und das Geweih auf meinem Kopf, und ich nicke wie hypnotisiert.

Alle um uns rum applaudieren euphorisch.

„Hm“ murmelt Horst Seehofer.

„Klingt gut“ sagt Jens Spahn. „Sie haben drei Tage Zeit, dann müssen sie liefern, sonst nehmen wir doch die Variante mit dem Glyphosat und den zusätzlichen Kondensstreifen am deutschen Himmel.“

 

ZOOM & SCHNITT:

„Natascha-Lou, ich kann das nicht!“

„Du kannst das, Kurt!“

„Ich habe Angst, dass ich versage!“

„Du hast keine Angst, dass du versagst, und wenn doch, dann ist genau diese Angst der richtige Schmierstoff für deine Kreativität!“

Wir sind gerade aus Berlin zurück und stehen im Flur meiner Wohnung.

„So Kurt, und jetzt gib mir deine Schlüssel, ich sperre dich über Nacht hier ein, und wenn ich morgen früh wiederkomme, möchte ich die erste Charge angstauflösender Teebeutelsprüche haben, klar?!“

„Nee, nicht klar“, sage ich, „das alles hier fühlt sich irgendwie wie bei Rumpelstilzchen an, nur dass diesmal ich als Mann die Müllerstochter spielen muss, die nachts eingesperrt wird, damit sie Stroh zu Gold spinnt – und das alles  nur, weil Du, Natascha-Lou, Dich heute bei den Herren Ministern in Berlin mit Deinen Behauptungen über meine Fähigkeiten etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt hast.“

„Ach komm schon, Kurt“

„Und was krieg ich dafür?“ frage ich trotzig.

„Ruhm und Ehre des Vaterlands!“

„Das ist nicht dein Ernst!“

„Na gut. Ich muss den Preis erst noch aushandeln, mit Horsti und Jensi, hab ich in der Eile vergessen…“ sagt Natascha-Lou.

„Das ist nicht dein Ernst.“

„Doch!“

„Dann mache ich es nicht! – für lau mach ich es einfach nicht!“

„Ach komm Kurt, gib dir einen Ruck!“ Und Natascha-Lou streicht mir wie beiläufig durch mein wirres Haar. Das wirkt fast immer, aber heute nicht, weil: ich schmolle noch immer, oder ich tue wenigstens so, als ob ich schmolle. Und Natascha-Lou überlegt also kurz und sagt dann: „Also gut, wenn du jetzt drei Nächte lang dein wirres poetisches Schamanen-Stroh im Gehirn für mich zu Gold spinnst, darfst du mich anschließend fragen, ob du mich heiraten darfst.“

Wie kitschig denke ich und sage: „Na gut, abgemacht!“

Und schon drückt mir Natascha-Lou eine mannshohe Großpackung mit unbeschrifteten Billigkräuterteebeuteln von Aldi in den Arm und sperrt mich in meiner Wohnung ein – ohne Handy und WLAN-Router, die sie mir kurz vorm Verlassen der Wohnung noch abgenommen hat. „Damit Du Dich nicht ablenkst!“ ruft sie mir noch durch die schon geschlossene Tür hindurch zu.

Die ganze Nacht über durchforste ich meine schamanistischsten Lesebühnentexte der letzten Jahre nach irgendwelchen krassen angstauflösenden Sätzen, die ich auf die Teebeutel-Zettel schreiben kann. Am nächsten Morgen halte ich Natascha-Lou, als sie die Wohnungstür öffnet, ebenso erschöpft wie unsicher zehn fertige Teebeutel vor die Nase:

„Na dann lies mal vor!“ sagt sie.

„Angstauflösender-Teebeutelspruch 1: Man soll sich nicht so wichtig nehmen. Angstauflösender Teebeutelspruch 2: Man soll, wenn es regnet, in den Wald gehen, sich zwischen die Bäume stellen und sich einfach mal nicht so wichtig nehmen. Angstauflösender-Teebeutelspruch 3: Sei deine Eigenschaften – und überstürze alles, denn es ist DEIN Leben und am Ende musst du es dir selber glauben. Angstauflösender-Teebeutelspruch 4: Alles hat seinen wahren Grund irgendwo tief im Wald. Angstauflösender-Teebeutelspruch 5: Wir sind wie Blätter im Wind – wenn der Herbst kommt wehen wir nach Süden – und von Norden treibt Schnee hinterher – How! Angstauflösender-Teebeutelspruch 6: Atmet jetzt!

„ – Danke, reicht Kurt!“ unterbricht mich Natascha-Lou, „Hm, na ja, weiß nicht, geht so vielleicht, wir brauchen auf jedem Fall mehr Sprüche, viel mehr als nur zehn! Bis morgen dann und streng Dich ein bisschen mehr an, diese Nacht!“ – Und Natascha-Lou schiebt mich zurück in die Wohnung und schließt die Tür wieder von außen ab.

Ich verpenne den ganzen Tag und da mir auch nach dem Aufwachen in dieser Kreativitätsquarantäne hier nichts eigenes mehr einfällt, durchforste ich die nächste Nacht meine sämtlichen Bücherregale nach den angstabweisendsten Sinnsprüchen meiner Lieblingsschriftsteller. Als Natascha-Lou am kommenden Morgen in der Wohnung erscheint, habe ich hundert neue Teebeutel mit Sprüchen versehen und beginne gleich, sie ihr vorzulesen:

„Angstauflösender-Teebeutelspruch 11: Man muss erst einige Male sterben, um wirklich leben zu können. (Charles Bukowski) / Angstauflösender-Teebeutelspruch 12: Dass unsere Aufgabe genauso groß ist wie unser Leben, gibt ihr einen Schein von Unendlichkeit. (Franz Kafka) / Angstauflösender-Teebeutelspruch 13: Der strategische Gegner ist der Faschismus …. der Faschismus in uns allen, in unseren Köpfen und in unserem Alltagsverhalten … der Faschismus, der uns dazu bringt, die Macht zu lieben, genau das zu begehren, was uns beherrscht und ausbeutet. (Michel Foucault) / Angstauflösender-Teebeutelspruch 14: Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehen. (Friedrich Nietzsche) /  Angstauflösender-Teebeutelspruch 15: Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. (Karl Marx) …“

„ – Halt, das reicht Kurt! … – Ich weiß nicht… Das klingt ja alles ganz schön, aber ob das Spahn und Seehofer überzeugen und von ihrer persönlichen German Angst erlösen wird, ob das also wie versprochen bei denen echt reinknallt, weiß nicht so recht. Ich glaube wir brauchen auch noch ein paar angstabweisende Teebeutelsprüche in – ich sag‘ jetzt mal: »einfacher Sprache«, wenn du verstehst, was ich meine?! – Und am besten tausend davon!“

Und Natascha Lou sperrt mich ein drittes Mal ein, damit ich mein mentales Stroh zu Gold spinne. Aber ich bin leer und auch meine Bücherregale sind inzwischen leer – zumindest was das Anforderungsprofil von Natascha-Lous Aufgabe betrifft. Und ich irre in dieser letzten Nacht durch die Wohnung auf der Suche nach Texten in einfacher Sprache, mit deren Hilfe ich Horst Seehofer und Jens Spahn und überhaupt das ganze deutsche Volksvolk kommunikativ erreichen und von all ihren Ängsten erlösen kann. Nach einer Sprache und Textsorte, die einfach »quadratisch, praktisch, deutsch« wäre und zugleich krass philosophische Tiefe hätte. Und der Morgen dämmert bereits, und ich bin verzweifelt, da gerät mir beim Kramen im hintersten Winkel meines Küchenregals die 212seitige Hardcover-Bedienungsanleitung für meinen Miele-Stausauger aus dem Jahr 1992 in die Hand. Und wie im Corona-Fieber schlage ich das Buch auf. Und tatsächlich: schon der erste Satz, den ich lese, elektrisiert mich, denn er atmet zugleich technische Präzision und zugleich unendlich metaphysische Tiefe:

Angstauflösender-Teebeutelspruch 111: Der Hersteller haftet nicht für eventuelle Schäden, die durch nicht bestimmungsgemäßen Gebrauch oder falsche Bedienung verursacht werden. – Ein existentieller Satz so praktisch und so abgründig metaphysisch gleichzeitig wie das ganze eigene Leben, ein Satz über den man sein ganzes kleines deutsches Leben lang nachdenken und sich bei allen Entscheidungen im Alltag richten kann, German-Angst-auflösungstauglich – wie fast alle weiteren 1000 Sätze dieser Bedienungsanleitung, die ich nun in den nächsten 3 Stunden abschreibe und auf 1000 neue Teebeutel-Zettel  kritzele. Bis Natascha-Lou die Tür aufschließt.

„Na dann lies mal vor!“ sagt sie und schaut mich erwartungsfroh an.

„Angstabweisender Teebeutelspruch 112: Der Staubsauger darf nicht benutzt werden für: das Absaugen von Menschen oder Tieren. Angstabweisender Teebeutelspruch 113: Keine brennbaren oder alkoholhaltigen Stoffe auf die Filter geben. Teebeutelspruch 114: Beim Vorliegen einer Störung Netzstecker ziehen. Angstabweisender Teebeutelspruch 115: Die Gebrauchsanweisung bitte aufbewahren. Angstabweisender Teebeutelspruch 116: Sofern sie keine Substanzen enthalten, die für den Hausmüll verboten sind, können Sie über den normalen Hausmüll entsorgt werden. Angstabweisender Teebeutelspruch 117: Bei mehrstündigem Dauerbetrieb Netzanschlusskabel vollständig ausziehen. Angstabweisender Teebeutelspruch 118: Vermeiden Sie das Saugen mit Handgriff, Düsen und Rohr in Kopfnähe…

„… O.k. Kurt, das reicht! – Schnapp dir deine Teebeutel, wir nehmen dem nächsten Zug nach Berlin.“

 

ZOOM & SCHNITT:

Natascha-Lou und ich sitzen wieder im Konferenzsaal des Bundes-Angst-Ministeriums. Dieses Mal aber allein Jens Spahn und Horst Seehofer gegenüber. Zwischen uns die Kiste mit den 1111 Anti-Angst-Teebeuteln unserer ersten Prototyp-Serie.

Natascha-Lou hält den beiden Ministern die offene Kiste aufmunternd entgegen: „Ziehen Sie sich jetzt einfach mit geschlossenen Augen ihren ganz persönlichen Teebeutel aus der Anti-Angst-Kiste. – So. – Augen wieder auf. Tun Sie den Teebeutel jetzt in die Tasse mit dem heißen Wasser vor Ihnen und schwenken ihn zwei, drei Minuten ganz meditativ hin und her. So und jetzt lesen sie den Spruch auf dem Teebeutel laut vor und schön mit Betonung! – Herr Seehofer, Sie beginnen!“

Und wie unter Hypnose deklamiert Horst Seehofer jetzt tatsächlich das ultimative persönliche Anti-Angst-Mantra für sein ganzes weiteres Leben: DOPPELPUNKT: „Es ist möglich, dass nicht alle beschriebenen Ausstattungsmerkmale und Funktionen auf Ihr Modell zutreffen.

Und mit noch mehr deklamatorischem Pathos in der Stimme liest anschließend Jens Spahn seine eigene Angstbewältigungsformel in Staubsauger-Sprech vor: „Sie sollten nur das Original Zubehör vom Hersteller verwenden, das speziell für Ihren Staubsauger entwickelt wurde, um das bestmögliche Saugergebnis zu erzielen.

Und Natascha-Lou lächelt und sagt: „Merken Sie, wie es wirkt?“

Und Horst und Jens nicken wie betäubt, und ich glaube, ich darf Natascha-Lou dann also heute Abend die entscheidende Angst-Frage ihres oder meines Lebens stellen. Mal sehen, wie sie antwortet.